Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Kiechle,
zurzeit wird viel dafür getan, dass in der vielseitigen Krise unserer Zeit die Wirtschaft, die Energieversorgung, die Infrastruktur unseres Landes intakt bleibt. Die Bundesregierung bietet den Bürger*innen etliche Hilfeleistungen, damit sie gut durch die nächsten schwierigen Monate kommen und ihre existenziellen Ängste kleiner halten können. Gleichzeitig warnen aktuelle Armutsberichte wie vom Paritätischen Gesamtverband davor, dass in unserem reichen Land die Zahl der Menschen, die ohne Unterstützung nicht mehr über die Runden kommen, seit zwei Jahren massiv steigt und steigen wird. Die steigende Zahl der Bedürftigen in Kempten kann man besonders klar an der erhöhten Nachfrage bei den Tafeln und beim Foodsharing beobachten.
Dank einem engmaschigen Netz von Sozialleistungen, Institutionen des Wohlfahrtstaates und einer Vielzahl von engagierten haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen wird in Kempten bereits viel getan, um Armut zu verhindern und die Folgen abzumildern. Trotzdem: Die nächsten Monate werden für viele Menschen mit besonderen Herausforderungen verbunden sein, die die Hilfeleistungen der Bundes- und Landespolitik nur zum Teil abfedern können, u.a. auch deswegen, weil diese nicht immer zielgerichtet an Bedürftige gezahlt werden. Deshalb ist es vor Ort notwendig, nicht nur für ein Blackout, Engpässe in der Gasversorgung o.Ä. Notfallpläne zu haben, sondern auch für die Betreuung von Menschen, denen es an Lebensmitteln oder an Verbrauchsgütern des täglichen Bedarfs mangelt oder die ihre Wohnung nicht mehr heizen, geschweige denn halten können und die hierbei oft vereinsamen und teilweise in ihrer Notlage nicht einmal wahrgenommen werden.
Armut bedeutet, wie Heinrich Bedford-Strohm bereits in seiner Dissertation 1992 feststellte, grundsätzlich „fehlende Teilhabe“. „Die Armen entbehren nicht nur der materiellen Güter, sondern auf der Ebene der menschlichen Würde entbehren sie der vollen gesellschaftlichen und politischen Mitbeteiligung“, schreibt er („Vorrang für die Armen“, Leipzig 20182 , S. 161). Gerade in dem Bereich kann man auf kommunaler Ebene viel leisten, indem man gemeinsam ein gesellschaftliches Klima schafft, das von gegenseitiger Achtung und vom genauen Hinschauen auf die Nöte unserer Mitmenschen geprägt ist.
Ein von der Stadt organisierter „Runder Tisch“ kann Bedarfe und Hilfeleistungen koordinieren und für eine sehr heterogene gesellschaftliche Gruppe von Bedürftigen Lobbyarbeit leisten. Er kann auf akute Probleme hinweisen und nötige Investitionen von der Kommunalpolitik einfordern. Investitionen in den gesellschaftlichen Zusammenhalt waren immer wichtig, aber lange nicht mehr so unentbehrlich wie heute. Entscheidend in diesem Winter wird es auch sein, dass die Stadtpolitik auf konstruktive Weise und mit Zuversicht den politischen Diskurs über die Schwierigkeiten im sozialen Leben dominiert und diesen nicht Extremisten überlässt.
Um mit den Gedanken von Heinrich-Bedford-Strohm zu schließen: Armut ist weder Zufall noch Schicksal, sondern oft ein Produkt ungerechter Strukturen oder menschlichen Fehlverhaltens. In diesem Sinne ist eine Politik für die Armen „nicht ein Akt der Wohltätigkeit, sondern vielmehr der Gerechtigkeit“ (w.o., S. 163).