Antrag im Namen der Fraktion BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Kiechle,
Wir stellen den Antrag auf einen Bericht über die aktuelle Situation und Verfahrensweise in der Stadt Kempten im Bereich Asyl, mit dem Fokus auf der Nutzung rechtlicher Entscheidungsräume zugunsten der Betroffenen während der Corona-Pandemie.
Die aktuellen Herausforderungen durch die Corona-Pandemie sind für Kemptener Bürgerinnen und Bürger mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus besonders stark belastend. Die Auflagen und Bestimmungen sind oft kaum zu erfüllen, ohne dass dadurch Gefahr für die Gesundheit, Existenz und das Leben der Menschen entsteht.
In der aktuell unsicheren Zeit sind es in erster Linie die örtlichen Stadtverwaltungen, die bestehende rechtliche Entscheidungsräume nutzen, um Menschen mit Fluchterfahrung helfend zur Seite zu stehen. In der Bürgerbefragung 2020 wurde der Stadtverwaltung in Kempten große Bürgerfreundlichkeit attestiert. Diese kann hier besonders zum Tragen kommen und stellt ein klares Zeichen unserer Willkommenskultur dar. Die damit verbundene Wertschätzung gibt den Betroffenen in ihrer unsicheren Lebenssituation Halt und ein wenig Sicherheitsgefühl.
Wir bitten um einen Bericht über die aktuellen Abläufe im Bereich der Verfahren mit Asylbewerber*innen, insbesondere sollen dabei auch folgende Fragen beantwortet werden:
1. Wird die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 15.6.2006, 1 B 54.06: „Von vornherein aussichtslose Handlungen zur Passbeschaffung dürfen dem Ausländer nicht abverlangt werden.“) in Kempten berücksichtigt?
2. Trifft es zu, dass das Ausländeramt die Betroffenen weiterhin zu von vornherein aussichtslosen Aktivitäten (s. Corona-bedingte Schließungen von Botschaften u.v.m.) hinsichtlich der Passbeschaffung auffordert?
3. Trifft es zu, dass trotz Aussichtlosigkeit weiterhin Strafanzeigen wegen Passlosigkeit und fehlender Mitwirkung gestellt werden?
4. Werden die rechtlichen Möglichkeiten zur Verlängerung des Aufenthalts vor Ort, wie sie durch § 39 der Aufenthaltsverordnung gegeben sind, in Kempten ausgeschöpft?
5. Werden derzeit Auflagen, Abschiebeverfahren, Ausreisebestimmungen u.Ä. ausgesetzt, um Menschen nicht zusätzlichen Gefahren durch die herrschende Corona-Pandemie auszusetzen?
Der Stadtrat hat sich einstimmig dazu bekannt, dass Menschen hier einen guten Ort zum Leben vorfinden können und beschlossen: „Die Stadt Kempten setzt sich mit ihrer gesamten Zivilgesellschaft seit langem dafür ein, dass geflüchtete Menschen hier einen Ort zum Ankommen – „einen sicheren Hafen“ – vorfinden.“ Durch entsprechende Verfahrensbearbeitung im Verwaltungshandeln kann dieser Beschluss mit weiteren Inhalten gefüllt werden.
Antwort von Herrn Oberbürgermeister Kiechle vom 23.11.2020
Sehr geehrter Herr Stadtrat Fischer,
vielen Dank für Ihren Berichtsantrag über die aktuelle Situation und Verfahrensweise in der Stadt Kempten im Bereich Asyl vom 16.11.2020.
Allerdings handelt es sich beim Ausländer- und Asylrecht um eine staatliche Pflichtaufgabe und nicht um eine Aufgabe, die in die Zuständigkeit bzw. Regelungsbefugnis der Stadt Kempten fällt, weshalb eine Diskussion zu diesem Thema im Stadtrat leider nicht möglich ist.
Gerne nehme ich aber zu Ihrem Berichtsantrag Stellung.
Beim Ausländerrecht handelt es sich um eine Aufgabe der Ausländerbehörde im übertragenem Wirkungskreis. Das bedeutet, dass die Ausländerbehörde an die Gesetze und die Weisungen des Bundesministeriums des Innern und des Bayerischen Staatsministerium des Innern gebunden ist.
Bei dem angesprochenen Personenkreis handelt es sich vorwiegend um ausländische Staatsangehörige, deren Asylantrag durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und des Verwaltungsgerichts rechtskräftig abgelehnt wurde und sie damit vollziehbar ausreisepflichtig sind. An die Entscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge und des Verwaltungsgerichts ist die Ausländerbehörde nach § 42 Satz 1 AsylG gebunden.
Dieser Personenkreis unterliegt auch der Passpflicht nach § 3 AufenthG und ist auch in der derzeitigen Pandemiesituation nicht von der Passpflicht befreit.
Bei vielen dieser Personen ist die Identität, zum Teil seit Jahren, nicht geklärt und es liegen keine Pässe vor. Die Gründe hierfür sind nachvollziehbar, da bei geklärter Identität und Vorliegen eines Passes in der Regel die Rückführung in das Heimatland erfolgt.
Allerdings sind die Betroffenen nach § 48 Abs. 3 Satz 1 AufenthG zur Mitwirkung bei der Passbeschaffung und Identitätsklärung verpflichtet:
"Besitzt der Ausländer keinen gültigen Pass oder Passersatz, ist er verpflichtet, an der Beschaffung des Identitätspapiers mitzuwirken sowie alle Urkunden, sonstigen Unterlagen und Datenträger, die für die Feststellung der Identität und Staatsangehörigkeit und für die Feststellung seiner Identität und Staatsangehörigkeit und für die Feststellung und Geltendmachung einer Rückführungsmöglichkeit in einen anderen Staat von Bedeutung sein können und in deren Besitz er ist, den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden auf Verlangen vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen."
Die Identitätsklärung geht somit über eine reine Passbeantragung hinaus und erstreckt sich auch auf die Beschaffung und Vorlage von Unterlagen z.B. aus dem Heimatland.
1. Wird die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 15.06.2006, 1 B 54.06: "Von vornherein aussichtslose Handlungen zur Passbeschaffung dürfen dem Ausländer nicht abverlangt werden.") in Kempten berücksichtigt?
Der Beschluss des BVG vom 15.06.2006 ist der Ausländerbehörde bekannt und wird auch berücksichtigt.
Der Beschluss befasst sich in einem Einzelfall mit der Frage "welchen Umfang die Initiativpflicht des Ausländers bei der Beschaffung von Identifikations- und Heimreisepapieren hat bzw. welche konkreten Handlungen im Rahmen der Initiativpflicht von ihm verlangt werden können".
Der Beschluss führt hier jedoch aus, dass sich die aufgeworfene Frage nicht verallgemeinerungsfähig beantworten lässt. Und weiter:
"Über die Aussage hinaus, dass von vornherein erkennbar aussichtslose Handlungen dem Ausländer nicht abverlangt werden dürfen, entzieht sich die Frage aber einer abstrakt-generellen Klärung in einem Revisionsverfahren."
Welche Handlungen erkennbar aussichtslos sind, ist immer im Einzelfall zu prüfen und kann nicht allgemein beantwortet werden.
2. Trifft es zu, dass das Ausländeramt die Betroffenen weiterhin zu vornherein aussichtslosen Aktivitäten (s. Corona-bedingte Schließungen von Botschaften u.v.m.) hinsichtlich der Passbeschaffung auffordert?
Das Ausländeramt fordert die Betroffenen zur Passbeschaffung und Identitätsklärung auf. Welche Schritte der Betroffene unternimmt bleibt erst einmal ihm überlassen und beschränkt sich nicht nur auf die Vorsprache bei seiner Botschaft.
Die derzeitige Corona-Pandemie entbindet die Betroffenen nicht davon, alle möglichen Schritte zu unternehmen oder einzuleiten, die für die Feststellung der Identität und Staatsangehörigkeit erforderlich sind.
Es beinhaltet z.B. auch, sich Urkunden aus seinem Heimatland zu beschaffen und die Kontaktaufnahme mit Verwandten im Heimatland, die bei der Beschaffung von Unterlagen zur Identitätsklärung helfen können.
Daneben kann auch mit geschlossenen Botschaften Mail-Kontakt aufgenommen werden und auf der Homepage abgefragt werden, welche Unterlagen für die Ausstellung eines Passes erforderlich sind. Bei vielen Botschaften ist es auch möglich, einen bereits jetzt einen Termin online zu vereinbaren, der dann aber erst z.B. in einem 1/2 Jahr stattfindet.
Zudem teilt das Bayerische Landesamt für Asyl und Rückführung in einer regelmäßigen Lagefortschreibung den Ausländerämtern mit, welche Botschaften und Konsulate geöffnet/geschlossen haben und wie sie arbeiten. Der Lagefortschreibung vom 13.11.2020 ist zu entnehmen, dass die meisten Botschaften/Konsulate wieder arbeiten, wenn teilweise auch eingeschränkt.
Das Ausländeramt fordert zur Passbeschaffung auf und verlangt nicht die rein formale Vorsprache bei der Botschaft, die ohne die für eine Passbeantragung erforderlichen Unterlagen zu besitzen, regelmäßig nicht zur Ausstellung eines Passes führt. Wir unterstützen die Passbeschaffung und Identitätsklärung, indem wir Anregungen geben, was getan werden könnte. Für die Passbeschaffung und Identitätsklärung hat der Betroffene selbstständig zu sorgen.
Zu diesem Thema führt der baden-württembergische VGH in einem Beschluss v. 09.04.2019 - 11 S 2868/18 - Folgendes aus:
"§3 Abs. 1 AufenthG statuiert die Passpflicht, die zu den Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG gehört. Diese Pflicht wird durch die Mitwirkungsverpflichtungen nach § 48 Abs. 3 Satz 1 AufenthG bei der Beschaffung des Identitätspapiers flankiert. Ein ausreisepflichtiger Ausländer hat daher alle zur Erfüllung seiner Ausreisepflicht erforderlichen Maßnahmen, und damit auch die zur Beschaffung eines gültigen Passes oder Passersatzpapiers, grundsätzlich ohne besondere Aufforderung durch die Ausländerbehörde unverzüglich einzuleiten."
Und weiter:
"Denn die Vorschrift knüpft an die allgemeinen Obliegenheiten und Mitwirkungspflichten des Ausländers an, die ausschließlich dessen Einflussbereich unterliegen und der Behörde regelmäßig nicht bekannt sein können. Dass der Ausländer diesen Pflichten in ausreichender und zumutbarer Weise nachzukommen versucht hat, hat er daher zunächst darzulegen und gegebenenfalls zu belegen."
Das bedeutet, dass die Betroffenen am besten wissen, welche Schritte sie unternehmen müssen, um einen Nationalpass zu erhalten bzw. an Dokumente zu kommen, die ihre Identität klären und diese Schritte grundsätzlich selbstständig einleiten müssen.
3. Trifft es zu, dass trotz Aussichtlosigkeit weiterhin Strafanzeigen wegen Passlosigkeit und fehlender Mitwirkung gestellt werden?
Seit Beginn der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 werden durch das Ausländeramt keine Strafanzeigen wegen Passlosigkeit oder fehlender Mitwirkung gestellt. Die jetzt noch laufenden Verfahren haben ihren Ursprung in der Zeit davor.
Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass die Polizei bei Kontrollen Passlosigkeit feststellt und ein Strafverfahren einleitet.
4. Werden die rechtlichen Möglichkeiten zur Verlängerung des Aufenthalts vor Ort, wie sie durch § 39 der Aufenthaltsverordnung gegeben sind, in Kempten ausgeschöpft?
§ 39 AufenthV wird angewendet und bei Vorliegen der rechtlichen Erteilungsvoraussetzungen wird ein Aufenthaltstitel auch nach der Einreise erteilt.
5. Werden derzeit Auflagen, Abschiebeverfahren, Ausreisebestimmungen u.Ä. ausgesetzt, um Menschen nicht zusätzlichen Gefahren durch die herrschende Corona-Pandemie auszusetzen?
Wie bereits ausgeführt, handelt es sich beim Ausländerrecht um eine Aufgabe im übertragenen Wirkungskreis, bei dem wir an die Gesetze und Weisungen des Innenministeriums gebunden sind.
Die Ausländerbehörde hat daher nicht die Befugnis, Auflagen, Abschiebeverfahren, Ausreisebestimmungen u.Ä. außer Kraft zu setzen, die bei ausreisepflichtigen abgelehnten Asylbewerbern durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge angeordnet wurden und in 95 % der Fälle durch eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestätigt wurde. An diese Entscheidungen ist das Ausländeramt nach § 42 Satz 1 AsylG gebunden.
Die Aussetzung von Abschiebeverfahren und Ausreisebestimmungen müsste durch das Bundesministerium des Innern oder durch das Bayerische Staatsministerium des Innern durch eine Allgemeinverfügung erfolgen.
Zuletzt hat das Bundesministerium des Innern mit Verordnung zur Verlängerung der vorübergehenden Befreiung von Inhabern ablaufender Schengen-Visa und zur vorübergehenden Befreiung zur Durchreise zum Zweck der Ausreise aus dem Schengen-Raum vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels auf Grund der COVID-19-Pandemie von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Diese Verordnung war bis zum 30.09.2020 befristet und wurde nicht verlängert.
Zudem teilt das Landesamt für Asyl und Rückführungen in einer regelmäßigen Lagefortschreibung mit, in welche Länder unter welchen Voraussetzungen Rückführungen möglich sind.
Die Möglichkeit der freiwilligen Ausreise bleibt davon unberührt.
Da die Aussetzung von Auflagen, Abschiebeverfahren, Ausreisebestimmungen u.Ä. nicht in den Regelungsbereich der Stadt Kempten (Allgäu) fällt, müssten daher politische Initiativen in Berlin ergriffen werden.
Ich hoffe, dass damit die in Ihrem Berichtsantrag vom 16.11.2020 aufgeworfenen Fragen beantwortet sind und verbleibe mit freundlichen Grüßen, Thomas Kiechle.