Europa-Rede

Meine Europa-Rede, 28.04.2019

"Unter Europa verstehen wir ein Jahrhunderte altes und zugleich unabgeschlossenes Wagnis."
Fernand Braudel, 1989
Am 28. April 2019 veranstaltete der Freundschaftskreis Partnerstädte eine Kundgebung unter dem Motto "Ein Herz für Europa" auf dem Hildegardplatz in Kempten (weitere Informationen). 
Im Rahmen der Veranstaltung habe ich folgende Rede gehalten:
Liebe Europafreunde,

bitte schließen Sie für ein paar Minuten die Augen. Stellen Sie sich den schönsten Menschen vor, den Sie können. Gehen Sie auf eine Entdeckungsreise und fangen Sie bei den Zehen an… Für dieses wunderbare Lebewesen gab es bereits im antiken Griechenland einen Namen: Europa. Sogar der König der Götter Zeus war von Europa in dem Maße bezaubert, dass er sich in einen Stier verwandelte, um ihr näher kommen zu können.

Machen Sie die Augen wieder zu und setzen Sie Ihre Entdeckungsreise fort: Denken Sie an die wunderschönen Naturlandschaften, die Sie in Europa gesehen haben. Denken Sie an die Städte und Denkmäler, die Sie besucht haben. Denken Sie an die Menschen, die Sie in Europa kennen und vielleicht auch lieben gelernt haben. Denken Sie an die Begegnungen, die Sie beeindruckt haben. Denken Sie an die Partnerstädte, die Sie besucht haben und an die Menschen, die Sie dort kennen. Denken Sie an die „Körpersäfte“ wie Weine, Biere, Guinness, Champagner, Fruchtsäfte, die Sie genossen haben und die herrlichen Speisen, die Sie sich schmecken ließen. Sie haben sich gerade vor Augen geführt, warum wir alle dieses Europa so schätzen und lieben.

Jetzt dürfen Sie die Augen wieder aufmachen. Ich wurde Anfang der 1960-er Jahre in einem Land, sagen wir zwischen den Zehen und dem Knöchel Europas geboren. Etwas unter dem Knie befand sich eine dicke Bandage, eine dicke Mauer, die uns daran hinderte, Körperteile oberhalb zu entdecken oder zu kontaktieren. Die politische Führung behauptete, alles hinter dieser Bandage sei böse und gefährlich. Europa entwickelte sich bei uns jedoch zu einem Sehnsuchtsort. Wir versuchten, möglichst viel über diese geheimnisvolle Gegend zu erfahren. Wir lasen europäische Literatur, Thomas Mann, Günther Grass, Heinrich Böll, Albert Camus … Wir konnten im Kino die großen Klassiker des europäischen Kinos kennenlernen: Fellini, Bergmann, Antonioni, Buñuel … Wir bewunderten im Film „Dolce vita“ den Trevi-Brunnen mit Anita Ekberg, wohl wissend, dass wir keine Chance hatten, das Original live zu sehen.

In den 1980-er Jahren begann aber diese Mauer auf einmal zu bröckeln, die Bandage bekam Risse. Zwischen den beiden Teilen öffneten sich kleine Tore, die erste Kontakte ermöglichten. In dieser Situation gab es Menschen, die erkannt haben, dass Freundschaften über die Grenzen innerhalb des Kontinents den gesamten Körper fit und gesund halten können. Zu Ihnen gehörte beispielsweise unser Altoberbürgermeister Dr. Höß, der nach Sopron fuhr und 1987 einen Städtepartnerschaftsvertrag unterschrieb. Menschen aus beiden Städten begannen sich regelmäßig zu besuchen. Freundschaften entstanden und manchmal auch mehr: Ich persönlich lernte in dieser Zeit meine Frau kennen, wir heirateten und heute sind unsere drei Kinder und unser Enkelkind ein Symbol für die neue Verbindung, die damals entstand. Es ist wahrscheinlich auch kein Wunder, dass zwei Jahre später - im August werden wir den 30. Jahrestag feiern - genau dort bei Sopron, der endgültige Zusammenbruch der Mauer begann. Auf diesem Hintergrund können Sie vielleicht besser verstehen, warum Freiheit für mich bis heute einen besonders hohen Stellenwert besitzt.

Europa war im letzten Jahrhundert zweimal sehr, sehr krank. Die Haut bekam dunkle Flecken, sie wurde durchgehend braun und schwarz. Europa geriet in akute Lebensgefahr. Die Ursache dafür war, dass einzelne Körperteile sich eingebildet haben, mehr wert als die anderen zu sein und ohne die anderen besser klarzukommen. Rechter Arm first, linkes Ohr oder Popo first würde man heute sagen. Ohne fremde Hilfe wäre der Kreislauf total zusammengebrochen, die Katastrophe schien unabwendbar zu sein. Aber die Amerikaner und im zweiten Fall auch die Russen kamen zu Hilfe, Europa wurde gerettet und bekam wieder einmal eine neue, jugendliche Kraft.

In den letzten Jahren begannen diese alten Töne wieder lauter zu werden. Es gibt wieder Körperteile, die sich einbilden, besser als die anderen zu sein und wollen sich nicht mehr als Teil des gesamten europäischen Körpers bezeichnen. Aktuell können wir von den USA jedoch keine medizinische Hilfe erwarten; sie wurden diesmal nämlich von der gleichen Epidemie noch schlimmer erwischt als wir. Ein Körperteil von uns, wie meine Vorrednerin Imelda Harte eindrucksvoll beschrieb, beschloss sogar, sich von Europa abzutrennen. Inzwischen hat das Land aber auch gemerkt, dass die Amputation schmerzhaft und gefährlich sein könnte. Deswegen wurde der OP-Termin vor kurzem verschoben. Hoffentlich kommt es nie dazu. 

Unsere Aufgabe ist, unser geliebtes Europa gesund und jung zu erhalten, auch nach zwei Jahrtausenden. Der beste Weg ist, dafür zu sorgen, dass der Kreislauf zwischen den einzelnen Körperteilen immer funktioniert, dass man sich gegenseitig kennenlernt, einander mit Respekt und Wertschätzung begegnet. Wo kann das besser funktionieren, als im Rahmen der Städtepartnerschaften? Deswegen: Fahrt in die Partnerstädte, besucht Euch gegenseitig, schließt Freundschaften und habt dabei viel Freude! Das Europa der Zukunft wird Euch dafür danken.
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