„Was vor dreißig Jahren zwei Weltsysteme trennte, verbindet heute den historischen und kulturellen Reichtum von Ost und West. Aus dem 10.000 km langen Streifen, dessen Betreten in der Zeit des Kalten Krieges lebensbedrohlich war, ist heute ein „Grünes Band“ geworden, wo Menschen gerne ihre Freizeit verbringen. Entlang der Grenze, die ein Symbol der Ungleichheit wurde, weil sie nur in eine Richtung durchlässig war, können heute Menschen aller Nationen gemeinsam radeln oder wandern“, sagte Lajos Fischer, Geschäftsführer des Haus International, in seiner Einführung zum Bilder-Vortrag von Michael Cramer, Initiator des Iron Curtain Trails, der von der Barentssee bis zum Schwarzen Meer führt und 20 Länder (darunter 15 aus der EU) verbindet. Als Vorbild für diesen EuroVelo 13 (seit 2011 einer der 16 europäischen Radrouten) diente der Berliner Mauer-Radweg. Der „Europa-Radweg Eiserner Vorhang“ wurde im Mai 2019 auch als „Kulturroute des Europarats“ zertifiziert und ist damit die erste EuroVelo Route in dieser Liste.
Cramer wurde erstmalig 2004 ins Europäische Parlament gewählt, ein Jahr später entschied sich das Gremium, den Ausbau des Radweges als europäisches Projekt für nachhaltigen Tourismus zu unterstützen. Der Startschuss fiel bei drei transnationalen Workshops, die 2009/10 von der Europäischen Kommission in Warschau, in Sofia und in Kemptens ungarischer Partnerstadt Sopron organisiert wurden. Die Schirmherrschaft übernahmen Michael Gorbatschow, Lech Walesa, Marianne Birthler und Vaclav Havel. Die Route verläuft so nah wie möglich an der ehemaligen Grenze, die sie auch häufig überquert, sie integriert viele Zeugnisse der Geschichte und vermeidet stark befahrene Straßen. Michael Cramer, bis 2019 Europa-Abgeordneter der Grünen, kennt jeden Abschnitt aus eigener Erfahrung und hat darüber fünf sehr informative Bücher verfasst.
Die Radtour startet in Grense Jakobselv an der norwegisch-russischen und endet an der türkisch-bulgarischen Grenze am Schwarzen Meer. In Soumussalmi in Finnland steht das gemeinsame Kriegsdenkmal, das an den finnisch-sowjetischen Krieg 1939-40 erinnert. Im Baltikum wird auf die Geschichte der Menschenkette von Tallinn über Riga nach Vilnius am 23.08.1989 Bezug genommen. Bei Liepaja in Lettland gibt es das Holocaust-Mahnmal als "siebenarmigen Leuchter". In der Kurdischen Nehrung kann man Thomas Manns Sommerhaus besichtigen, in Königsberg auf den Spuren von Kant wandern. In Danzig erinnert das Solidanosc-Denkmal an den Beginn des Zerfalls des Eisernen Vorhangs. In Point Alpha stehen der amerikanische und sowjetische Wachturm einige Meter voneinander entfernt. In Mödlareuth, auch als „Little Berlin“ bezeichnet, wird man an die Mauer innerhalb einer Ortschaft und an die damit verbundenen Leiden erinnert. Der Drei-Freistaaten-Stein bei Münchenreuth signalisiert, dass man bayerischen Boden betritt. Im tschechischen Svätý Kríž erinnert ein Mahnmal an die Opfer des Eisernen Vorhangs. Über die Brücke von Andau, keine 30 km von Sopron entfernt, flohen am 4. November 1956 etwa 70.000 Ungarn in den Westen. In der Nähe unserer Partnerstadt wird an das Paneuropäische Picknick im August 1989 und an das legendäre Foto beim Durchschneiden des bereits fast vollständig abgebauten Eisernen Vorhangs mit Alois Mock und Gyula Horn am 27. Juni 1989 erinnert. An der bulgarisch- türkischen Grenze gibt es Reste des alten Grenzzauns, aber man radelt auch entlang des neuen Grenzzauns. Damit sind wir aber wieder in der Gegenwart angekommen, bei einer neuen Mauer, die bedingungslos nur in eine Richtung durchlässig ist…
Michael Cramer sprach auch über die ökologische und ökonomische Bedeutung des Fahrradtourismus, der eine jährliche Wachstumsrate von 20 Prozent aufweist. Autotouristen geben am Tag im Durchschnitt 10, Fahrradtouristen 35 Euro aus. 10 Millionen Arbeitsplätze und 5 Prozent des EU-BIP-s sind damit direkt verbunden. Die EU investiert trotzdem 60 Prozent ihres Verkehrshaushaltes im Straßenbereich und nur 0,7 Prozent für den Ausbau der Fahrradinfrastruktur. In Deutschland ist die Fahrradmitnahme bei der Bahn noch immer ein Problem. Aber am Ende hatte er auch für die Fahrrad begeisterten Zuhörer*innen eine erfreuliche Statistik: Die Lebenserwartung von Radfahrer*innen sei 5 Jahre länger als die der Nicht-radfahrer*innen.