Bereits im dritten vorchristlichen Jahrhundert erkannte Demokritos, dass das Wohlergehen einer Stadt vom Interesse ihrer Bürger für die Angelegenheiten der Stadtgemeinschaft abhänge. Der Stadtrat ist rechtlich gesehen zwar ein Verwaltungsorgan, aber sehr wohl mit einem starken parlamentarischen Charakter. Die 44 Stadträtinnen/Stadträte und der Oberbürgermeister wurden nach den Prinzipien der repräsentativen Demokratie gewählt, mit einem Handicap: An der Wahl nahmen nur 44,01 Prozent der Wahlberechtigten teil. Im Klartext: Mehr als der Hälfte der Stadtgesellschaft scheint es völlig „wurscht“ zu sein, wer in den nächsten sechs Jahren über die Rahmenbedingungen des öffentlichen Lebens in ihrer direkten „Heimat“ entscheidet. Und das trotz der mobilisierenden Kraft von Fridays for Future; trotz der Möglichkeit, nicht nur für Parteien, sondern auch für konkrete Personen stimmen zu können; trotz des breit wahrnehmbaren Gefühls, dass die nächsten Jahre über die Zukunft kommender Generationen entscheiden werden. Müssen wir uns ernsthaft Sorgen um die Zukunft unseres demokratischen Systems machen, wenn die Mehrheit der Bewohner*innen ihrer „Keimzelle“, dem höchsten demokratischen Organ ihres Wohnortes, gegenüber völlig gleichgültig zu sein scheint?
Mit diesem Handicap belastet war bereits der noch amtierende Stadtrat (2014: 41,42 % Wahlbeteiligung), was anscheinend niemanden groß gestört hat. Das Handicap wurde als „Normalität“ wahrgenommen, mit dem man gut leben kann und das sich sowieso nicht ändern lässt. Daran, dass man die Ursachen analysiert, über Auswege diskutiert und eine Strategie entwickelt, damit die Nächsten es besser haben, hat anscheinend keiner gedacht. Ich freue mich, dass ich dem zukünftigen Stadtrat angehören werde und bin den Wähler*innen sehr dankbar für das Vertrauen. Das bedeutet für mich aber auch Verantwortung, nicht nur für einzelne Entscheidungen, sondern auch für kluge Zukunftsstrategien. Warum entwickeln die Menschen zu wenig Empathie für die kommunalpolitischen Themen in unserer Stadt? Wie groß ist das Vertrauen zwischen Bürger*innen und Kommunalpolitiker*innen wirklich? Welche Möglichkeiten gibt es, Menschen an den Entscheidungsprozessen tatsächlich zu beteiligen? Um das vorhandene Handicap in sechs Jahren nicht wieder zu „vererben“, brauchen wir Antworten auf diese Fragen und wirkungsvolle Handlungsstrategien. In den nächsten Folgen meiner Kolumne werde ich auf diese einzeln eingehen.
Zum Schluss doch noch ein Gedanke auf die aktuelle Situation bezogen: In Krisensituationen wird es richtig sichtbar, ob die Bürger*innen (anders als in Demokritos‘ Zeit haben heute Frauen die gleichen Rechte) nur an sich denken oder auch am Wohlergehen der Stadtgemeinschaft interessiert sind. Bei der Eindämmung von Covid-19 könnten Demokratien den Vorteil haben, dass es hier normal ist, dass Politiker*innen Probleme alleine nicht lösen können, sondern auf die Mitwirkung der Zivilgesellschaft angewiesen sind. Diese bekommt man aber nur, wenn eine Vertrauensbasis vorhanden ist und eine große Mehrheit der Bevölkerung die Notwendigkeit der angeordneten Maßnahmen einsieht und mitträgt. Unser Bundespräsident und viele Politiker*innen auf der Bundes- und Landesebene sind sehr bemüht (bis jetzt mit Erfolg), Menschen in dieser schwierigen Zeit mit Sachargumenten, aber auch emotional mitzunehmen. Unsere Stadtspitze setzt die Anordnungen von oben zwar gut durch, in der Rolle eines örtlichen Mutmachers, als eine Instanz, die die Kraft der Gemeinschaft stärken wollte, nehme ich sie jedoch nicht wahr. Dass etwa 300 Menschen, die Regeln der Solidarität provokativ ignorierend, medienwirksam behaupten, sie seien das Volk (was in mir schlechte Erinnerungen an die Anfänge der Pegida weckt, zu deren Erstarkung die passive Haltung der Polizei und der Stadtpolitik in Dresden wesentlich beigetragen hatte) und dadurch die Lebensgefahr auch für ihre Mitmenschen billigend in Kauf nehmen, ist ein Symptom des vorhandenen Handicaps.