Aber wer ist „das Volk“? Wer verfügt über das Recht auf politische Teilhabe, wer darf auf die Rahmenbedingungen der eigenen Lebensverhältnisse – ganz wichtig in der Kommunalpolitik – Einfluss nehmen? Stephan Lessenich stellt in seinem Buch „Grenzen der Demokratie. Teilhabe als Verteilungsproblem“ dar, wie historisch und gegenwärtig diese Grenzen geöffnet und geschlossen wurden bzw. werden. Wir wissen aus dem Geschichtsunterricht, dass früher über politische Rechte ein Adelstitel oder die Dicke des Portemonnaies entschieden hatte.
In Deutschland durften die Frauen vor 101 Jahren das erste Mal wählen. Das war ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Gleichberechtigung, hier begann ein Prozess, der bis heute nicht abgeschlossen ist. Ob jemand tatsächlich die gleichen Teilnahmechancen hat, hängt auch von anderen – rechtlichen, sozialen, wirtschaftlichen oder kulturellen - Faktoren ab. Die vorherrschende politische Kultur und deren – auch habituell – gelebter Alltag in den einzelnen Parteien und Stadtratsfraktionen gehören auch dazu. Der einfachste Indikator dafür ist statistischer Art.
Wie sieht es in Kempten aus? Von den 45 Mitgliedern des zukünftigen Stadtrates sind 11 Frauen (bis jetzt 10), was 24,4 Prozent bedeutet. Bei der SPD (57 --> 75%) und bei den Grünen (50 --> 50%) ist die Welt in Ordnung. Dank einem „großen Stühlerücken“ landet die CSU bei 27,3 Prozent. Bei den Freien Wählern besteht die Fraktion aus einer Stadträtin (9,1%) und 10 Stadträten. In der zukünftigen Fraktionsgemeinschaft aus ÖDP/UB, FDP, Future for Kempten, JU findet man ausschließlich Männer. Besonders selbstkritisch sollten mit sich hierbei die beiden Jugendgruppierungen umgehen. Der Frauenanteil bei der AfD ist ebenfalls Null.
Wir brauchen eine städtische Strategie, um Frauen für die Kommunalpolitik zu begeistern und zu empowern und um politische Gruppierungen für sie zu öffnen. Eine Gleichstellungsstelle in der Stadtverwaltung zu haben, ist heute eine Selbstverständlichkeit. Das 2019 initiierte Shadowing-Projekt hat öffentlichkeitswirksam gezeigt, wie fruchtbar die Zusammenarbeit zwischen Verwaltung und amtierenden und potentiellen Stadträtinnen sein kann. Eine Gleichstellungsbeauftragte im Stadtrat wäre eine logische Konsequenz. Ein von ihr moderierter parteiübergreifender Erfahrungsaustausch wäre begrüßenswert. Wir brauchen effektive Projekte in Schulen und in der Jugendarbeit. Wir müssen junge Frauen, die sich bereits in NGOs oder in Vereinen engagieren, für die Kommunalpolitik gewinnen. Und wir sollten uns selber hinterfragen, ob unser alltäglicher politischer Umgang in der Kommunalpolitik frauenfreundlich genug ist. Es wäre auch hilfreich, die Geschichte, wie in Kempten zu „den bekannten ‚drei K-s‘ ein viertes, das K von Kommunalpolitik“ (Elisabeth Brock) dazukam, präsenter in das Narrativ der Kommunalgeschichte einzubauen und junge Frauen und Männer in Schulen und in der Jugendarbeit mit der Lebensleistung von engagierten Frauen wie Lisl Zach, Elisabeth Brock, Inge Nimz intensiv zu konfrontieren. Die Ausstellung „He, Fräulein“ oder das von Barbara Lochbihler und Sabine Schalm herausgegebene Lesebuch „Allgäuerinnen“ gehen hier mit gutem Beispiel voran.
Heute kann man ohne Zweifel behaupten: Durch die steigende Teilhabe von Frauen im politischen Leben ist unsere politische Kultur offener und toleranter, der Ton politischer Auseinandersetzungen moderater geworden. Es wurden neue Themen auf die Agenda gesetzt, die Solidarität in unserer Gesellschaft ist stärker geworden. Dieser Schritt bei der „Demokratisierung der Demokratie“ (Hedwig Richter/Kerstin Wolff), die heute für alle selbstverständlich ist, hat unser Gemeinwesen enorm bereichert und unsere demokratische Grundordnung durch die Erweiterung der demokratischen Basis (um 50 Prozent!) in höchstem Maße stabilisiert.
Die nächste große Öffnung unserer Demokratie, die in ihrer Bedeutung und Größenordnung damit weitgehend vergleichbar ist, ist in vollem Gange: Es geht um die interkulturelle Öffnung unserer Kommunalpolitik. Dazu können Sie in der nächsten Folge meiner Kolumne mehr erfahren.