1. Wenn positive Begriffe durch Adjektive oder mithilfe von Wortzusammensetzungen ergänzt werden, ist Vorsicht geboten: „Die sozialistische Demokratie bedeutete das Fehlen der Demokratie, die sozialistische Moral das Fehlen der Moral, die sozialistische Zukunft war die Aussichtslosigkeit selbst. Der Unterschied zwischen Demokratie und Volksdemokratie ist der gleiche wie der zwischen Jacke und Zwangsjacke“, betonte Péter Esterházy 2003 in einem Vortrag (Esterházy, Péter: A szavak csodálatos életéből, Budapest 2003, S. 16). Die Beispiele können wir beliebig fortsetzen: Sozialismus – Nationalsozialismus, Demokratie – illiberale Demokratie oder neuerdings: Denken – Querdenken.
Seit Descartes‘ „cogito ergo sum“, aber spätestens seit der Aufklärung gehören die Begriffe Denken und Menschsein untrennbar zusammen. Denken bedeutet in meinen Augen vor allem das Abwägen von Argumenten und Gegenargumenten, Neugier und Interesse, das Akzeptieren der Gleichzeitigkeit von mehreren widersprüchlichen „Wahrheiten“, aber auch das Denken an meine Mitmenschen. Heißt dann „Querdenken“ das Gegenteil: das ständige Wiederholen von Glaubenssätzen, verschlossene Ohren gegen Argumente, das Präsentieren „einfacher Wahrheiten“, das Pfeifen auf das Schicksal unserer Mitmenschen?
2. In einer Krisensituation, wie zurzeit, sind die Erwartungen an die Politik immens. Da politische Entscheidungen in einer Demokratie immer Kompromisse darstellen, die Zeit brauchen und vor allem, da das Virus seine eigenen Wege geht, könnte auch der/die beste Politiker*in dieser Welt kaum eine Lösung anbieten, die sich sowohl heute als auch morgen als absolut richtig erweist. Wir dürfen jetzt durch unerfüllbare Erwartungen das Vertrauen in die Politik nicht weiter schwächen und müssen die 1912 formulierte Definition von Walter Benjamin akzeptieren: „Politik ist die Kunst des kleinsten Übels.“ (zitiert von Eiland, Howard – Jennings, Michael W.: Walter Benjamin, Eine Biografie, Berlin 2020, S. 62)
Wenn die politischen Akteure jedoch nicht einmal diese Kunst beherrschen, dann öffnen sie einem großen Übel den Weg. Das Chaos der letzten Wochen erinnert mich unweigerlich an das Szenario, das Christopher Clark in seinem Weltbestseller „Die Schlafwandler“ (Clark, Christopher: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013) beschrieb: Die politisch Verantwortlichen sehen nur die momentanen eigenen Interessen und lassen die Welt ungewollt in die große Katastrophe schlittern.
Corona-Politik wird fast ausschließlich auf der Landes- und Bundesebene gemacht. Die Zentralen der Macht liegen in München und in Berlin. Soziale Bewegungen haben bis jetzt ihre Proteste auf die Orte konzentriert, an denen sie etwas verändern wollten. Ich habe keine rationale Erklärung dafür, warum die „Querdenker“ gerade Kempten „fluten“ wollten. Ich versuche querzudenken, aber ich bin gnadenlos überfordert!
3. Jeder Mensch braucht Freiheit, um wachsen und sich entfalten zu können. Diese Aussage können uns vor allem Menschen bestätigen, die wirklich ohne oder mit stark eingeschränkter Freiheit leben mussten oder leben müssen. Befragen wir dazu diejenigen, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Oder die, die beispielsweise im Ostblock aufgewachsen und sozialisiert sind, für die die Entscheidung für die Freiheit Lebensgefahr bedeutete. Fragen wir die Menschen, die in einer der vielen Diktaturen unserer Welt lebten oder leben. Wir können aber auch in unserer eigenen Stadt einige Geflüchtete fragen, denen unser Staat seit Jahren verbietet, zu arbeiten und das Verwaltungsgebiet von Kempten zu verlassen.
Wer die Freiheit schätzt und liebt, dem ist es auch bewusst, dass die eigene Freiheit auch mit Verantwortung verbunden ist. „Die Freiheit besteht darin, dass man alles tun kann, was einem anderen nicht schadet,“ stellte vor zwei Jahrhunderten der deutsche Dichter Matthias Claudius fest. Um den Schaden von anderen, aber auch von mir selbst, abzuwenden, ist es für mich selbstverständlich, für eine bestimmte Zeit auf bestimmte persönliche Freiheiten zu verzichten, wenn dadurch Menschenleben gerettet und schwere Krankheitsverläufe vermieden werden können. Wenn ich dadurch Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten, vor noch mehr Stress und vor Situationen, in denen sie Entscheidungen über Leben und Tod treffen müssen, bewahren kann. Um diese Haltung nachvollziehen zu können, muss man meiner Meinung nach nicht kompliziert, nicht um die Ecke oder querbeet denken. Denken genügt!
4. Die Pandemie stellt uns zurzeit wieder vor große Herausforderungen. Ich bin trotzdem zuversichtlich, dass sie sich in absehbarer Zeit abschwächt und irgendwann auch vorbei sein wird. Wir können stufenweise in unser „normales“ Leben zurückkehren. Aber die alte „Normalität“ wird es, und in vielerlei Hinsicht sollte es auch nicht, wieder geben. Es ist höchste Zeit, bundesweit, aber auch kommunal, „Think-Tanks“ einzurichten, um für den Übergang und für „die Zeit danach“ Handlungsstrategien zu entwickeln: Wie können wir Menschen wieder aus der Einsamkeit holen? Wie gehen wir mit der steigenden Armut um? Wie können wir das Wiederbeleben der Wirtschaft mit einem ökologischen Strukturwandel verbinden? Wie kompensieren wir die wertvolle Zeit, die in der Entwicklung unserer Kinder verloren ging? Wie gelingt es uns, unsere Innenstädte wieder zu beleben? Wie holen wir die Versäumnisse der Vergangenheit nach, die die Krise sichtbar gemacht hat, siehe beispielsweise Gesundheitswesen, Pflege, Digitalisierung, Schulbildung? Wie sorgen wir für eine menschenwürdige Unterbringung von Asylsuchenden? Wie schaffen wir es, für jeden ausreichenden Wohnraum zur Verfügung zu stellen? Wie können wir die tatsächliche Gleichstellung von Menschen mit Migrationsgeschichte bewerkstelligen? Welche Rolle soll Kultur bei der Wiederherstellung des gesellschaftlichen Zusammenhalts spielen, und wie kann sie die vielfach verlorene Fähigkeit der Menschen zur Empathie wieder stärken?