„L´Chaim!“: „Auf das Leben!“ – Das war mein erster Gedanke, als ich erfahren habe, dass Emmi Fischl am 6. Februar 2022 ihren 100. Geburtstag feiert. Dieser hebräische Spruch fasziniert mich immer wieder, da er in einem gegenwärtigen feierlichen Moment Vergangenheit und Zukunft verbindet. Da er uns regelmäßig vergegenwärtigt – in Israel versäumt man dazu keine Gelegenheit -, was wir in unserer Gesellschaft wirklich brauchen: Gemeinschaft und Tradition, Freude und Zuversicht, Ernsthaftigkeit und Augenzwinkern, selbstreflektiertes und spontanes Handeln, Gesundheit und Solidarität. Da der Spruch ohne Adjektiv auskommt, lässt er einen kritischen Blick genauso zu wie die Möglichkeit zur Versöhnung. Er ermutigt uns, immer wieder neu anzufangen.
Was als vielfache „L’Chaim“-Rufe, auch aus ihrer Geburtsstadt Kempten, könnten besser zum 100. Geburtstag einer Frau passen, die mit 17 Jahren ihre Heimat – unsere Stadt – verlassen musste, weil die damaligen Machthaber, mit breiter gesellschaftlicher Unterstützung, jedes jüdische Leben auslöschen wollten. Sie und ihr Bruder entkamen, ihre Eltern wurden ermordet. Emmi Hauser schaffte in den USA den Neuanfang, in ihrem akademischen, beruflichen Leben übernahm sie eine Pionier-Rolle und wurde für viele Frauen zum Vorbild. Sie gründete mit Fred Fischl eine Familie, sie bekamen drei Kinder. Als sie vor 16 Jahren erneut den Kontakt nach Kempten suchte, führte sie der Suchbegriff „Shalom“ auf die Internetseite der hiesigen Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Eine bis heute bestehende Freundschaft mit Maria Lancier und Klaus Wacker begann. Die Beiden sorgten dafür, dass für die verstorbenen Eltern Stolpersteine aufgestellt wurden. Durch Ralf Lienert bekommen die Leser*innen der Allgäuer Zeitung immer wieder einen Einblick in ihr reichhaltiges Leben. Eine Ausstellung im Zumsteinhaus dokumentiert, wie Schüler*innen ihrer ehemaligen Schule, des heutigen Hildegardis-Gymnasiums, mithilfe ihres Lehrers Armin Heigl mit ihr in Kontakt traten und unkompliziert, freundlich aufgenommen wurden.
Durch das persönliche Kennenlernen von Menschen aus der Geburtsstadt wurden auch in ihrem Fall tief reichende Barrieren abgebaut. Vergebung stellt übrigens in der jüdischen Tradition eine wichtige Tugend dar; wir wissen beispielsweise aus einem im Konzentrationslager Bergen-Belsen entstandenen Tagebuch, dass dort unter den Häftlingen über die Voraussetzungen der Teschuwa leidenschaftlich diskutiert wurde. „Wenn die Deutschen sich nicht vergeben können, dürfen wir ihnen ein bisschen vergeben. Aber wenn sie sich selber vergeben, werden wir ihnen nie vergeben“, brachte es Amos Oz’s Mutter treffend auf den Punkt.
Für uns ist es natürlich naheliegend, den Fokus auf den traumatischen Wendepunkt im Leben der 17-jährigen Emmi Hauser zu legen. Es fällt auch nicht schwer, ihr ganzes Leben als leuchtende Widerlegung der Absichten des mörderischen nationalsozialistischen Regimes zu sehen. Diese Sichtweise ist wichtig, aber damit alleine werden wir der Person der 100-jährigen Emmi Fischl nicht gerecht. An ihrem Geburtstag hat sie eine umfassende Würdigung, Anerkennung und damit verbundene menschliche Zuwendung verdient. Dieser Tag ist ein Fest des Lebens: „L’Chaim!“
Was um ihren Geburtstag herum zurzeit in Kempten passiert, hat mit ihr und mit der Würdigung ihrer Lebensleistung nichts, aber nichts zu tun! Der aktuelle Diskurs verrät aber sehr viel über die politische Kultur unserer Stadt!
Man muss zuerst klarstellen: Die Stadt Kempten kann ihr durch die Verleihung der Ehrenbürgerwürde ihre Würde, die die Nationalsozialisten ihr – inklusive ihrer gesamten Existenz -nehmen wollten, nicht zurückgeben. Sie hat ihre menschliche Würde ihr ganzes Leben lang bewahrt. Das ist ein natürlicher Teil ihrer eigenen Lebensleistung, außerdem der Verdienst ihrer Familie und von Menschen, die ihre Flucht ermöglicht, sie in ihrer neuen Heimat unterstützt und ihr gegenüber Wertschätzung und Menschlichkeit gezeigt haben. Die Verleihung der Ehrenbürgerwürde an Emmi Fischl wäre eher ein Signal in Richtung der Kemptener Bürger*innen: Wir wollen die Opfer des Nationalsozialismus in den Fokus unserer Erinnerungskultur rücken. In Zusammenhang damit stellen sich viele Fragen: Wie authentisch ist die Absicht hinter einer Verleihung, die ohne jegliche Vorbereitung hopplahopp entschieden wird? Warum stellten der Oberbürgermeister und die Verwaltung die Frage nach einer passenden Würdigung nicht schon längst in den städtischen Gremien? Ist es sinnvoll, Frau Emmi Fischl zur moralischen Entscheidung zu nötigen, ob sie die Auszeichnung annimmt, bevor geklärt wird, ob nicht einige der bereits mit der Ehrenbürgerschaft Geehrten im nationalsozialistischen Regime selbst eine aktive Rolle spielten? Dass einige NSDAP-Mitglieder waren, steht außer Zweifel. Was ist die Motivation dafür, dass gerade sie diese Auszeichnung bekommen soll und nicht andere Shoah-Überlebende aus Kempten?
Unsere Kulturbeauftragte, Frau Annette Hauser-Felberbaum, hat die Diskussion am 77. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz mit einer sehr emotionalen Rede ausgelöst. Sie hat versucht, uns, ihre Stadtratskolleg*innen, schonungslos, provokativ und mit Sicherheit nicht immer gerecht, aus der Reserve zu locken. In Deutschland haben wir uns, mindestens von den Akteur*innen der Parteien der politischen Mitte, zu sehr an konsensorientierte, sachliche und dadurch – gestehen wir es uns ein – oft langweilige Prozesse der Entscheidungsfindung gewöhnt. Emotionen werden Menschen auf der Straße, an den Stammtischen und in den sozialen Medien überlassen. Ist das gut für die Demokratie? Ich denke: Nein. War es vonnöten, sich für ihre Rede – wie Claudia Benz in der Allgäuer Zeitung forderte – öffentlich zu entschuldigen? Ich denke: Nein. Frau Felberbaum hat – anders als manche andere öfters in der nahen Vergangenheit – niemanden persönlich angegriffen. Was konnte man in ihrer Rede – teilweise zwischen den Zeilen – lesen? Vor allem: Ungeduld. Damit ist sie mit Sicherheit nicht alleine. Die große Mehrheit der Stadtgesellschaft begrüßt, dass die Stadt angefangen hat, sich mit der eigenen Geschichte kritisch auseinanderzusetzen. Aber geht es schnell und unbürokratisch genug? Wird die Zivilgesellschaft aktiv einbezogen? Wird das Potential der letzten lebenden Zeitzeugen ausgeschöpft? Wird nicht zu viel geredet und zu wenig gehandelt? Über diese Fragen darf und muss, öffentlich und gerne auch emotional, diskutiert werden! Andererseits darf man auch fragen: War es notwendig, den Ausdruck ihrer Ungeduld mit der Person von Emmi Fischl in Verbindung zu bringen? Ich denke: Nein. Hat das dazu beigetragen, dass der 100-Jährigen eine angemessene Würdigung zuteil wird? Ich denke: Nein.
„Eine noble Geste, die einlullt“, meint der Erzähler von Yasmina Rezas neuem Roman „Serge“ und bezieht sich auf die gewohnten Formen der Erinnerungskultur. Auch in der Wissenschaft wird betont, dass es mehr schadet als nutzt, dieselben sprachlichen Formulierungen zu wiederholen, ohne konkret zu werden. In so weit hat Frau Hauser-Felberbaum Recht, wenn sie betont, dass es nicht genüge, „We remeber“ oder „nie wieder“ zu postulieren. Als bahnbrechend gilt die Studie von Dana Giesecke und Harald Welzer über die „Renovierung der Erinnerungskultur“. Sie zeigen auf, wie man heute jungen Menschen die Zeit des Nationalsozialismus so nahebringt, dass sie die damit verbundenen grundlegenden Fragen mit ihrer jetzigen Lebenswirklichkeit und mit ihren eigenen Emotionen verbinden können. Es heißt nicht, die Singularität der Shoa infrage zu stellen, wenn man darauf hinweist, dass in unserer Stadt heute Menschen leben, die ähnlich wie die 17-jährige Emmi, gezwungen sind, alleine, ohne ihr soziales Umfeld, ein Leben in der Fremde zu starten. Der Umgang mit Geflüchteten bietet zweifelsohne einige Indikatoren dafür, wie glaubwürdig Politiker*innen-Aussagen über die Lehren aus der Vergangenheit zu nehmen sind. Die Diskussion über Kempten als sicherer Hafen, das Schweigen über die Notwendigkeit staatlicher und ziviler Seenotrettung, über die grausamen Verhältnisse in griechischen Lagern oder zum Kirchenasyl, die Unfähigkeit, Kindern in den Asylunterkünften während der Corona-Pandemie einen kostenlosen Internet-Zugang zu bieten, die defizitäre Umsetzung von Willkommenskultur in den Behörden, das Fehlen einer Anlaufstelle für von Diskriminierung und Rassismen Betroffene, die zahlreichen Formen tolerierter Ausgrenzungen und Mikroaggressionen im Alltag beweisen, dass es hier noch viel Luft gibt nach oben. Das Schicksal der Familie Hauser zeigt exemplarisch auf, dass „der Schutz der Menschenwürde aus der Hölle geboren wurde“ (Wolfgang Janisch). Diese Menschenwürde ist nicht verhandelbar. Ármin Langer hat Recht: „Die Zeit ist jetzt gekommen, in der [wir] nicht mehr sagen ‚nie wieder‘, sondern ‚nie wieder, egal wen es trifft‘“.
Wir wollten die Aufmerksamkeit wieder auf den Menschen Emmi Fischl und auf ihren Geburtstag lenken: „L‘Chaim!“ Deswegen planten wir für den 6. Februar ein Treffen in einer kleinen Gruppe, um persönliche Erinnerungen miteinander zu teilen und einige davon digitalisiert nach Florida zu schicken. Nach der emotionalen Debatte dachten wir an den bekannten Spruch des persischen Mystikers Rumi: „Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns.“ Wir wollten einen solchen Ort bieten. Unser Oberbürgermeister hat sich nach längerem Überlegen entschieden, unserer Einladung nicht zu folgen, gleichzeitig wünschte er uns viel Erfolg. Am nächsten Tag wurde uns vom geplanten Veranstaltungsort die Unterstützung entzogen. Vorauseilender Gehorsam? Woher kennen wir eigentlich diesen Begriff? Es gäbe doch noch viele Chancen, aus der Vergangenheit zu lernen.
Mich hat es sehr fasziniert, wie begeistert Menschen auf die Idee dieses Treffens reagierten, wie sie alles stehen und liegen gelassen haben, um sich darauf gut und mit vollem Herzen vorzubereiten. Dieses Gefühl, diese Freude bleiben. In diesem Sinne: Happy Birthday, Emmi Fischl und „L‘Chaim!“