Artikel 3 des Grundgesetzes verspricht die Gleichheit aller Menschen, unabhängig ihrer Herkunft. Artikel 20 sichert das Wahlrecht, also das gleiche politische Mitbestimmungsrecht, dem „Volk“ zu. Bundeskanzlerin Merkel stellte im Februar 2017 klar: „Das Volk ist jeder, der in diesem Lande lebt“. Das Wahlrecht auf Gemeindeebene wird jedoch laut Artikel 28 auf deutsche und seit dem Maastrichter Vertrag auf EU-Bürger*innen eingeschränkt. Um diesem Demokratiedefizit entgegenzuwirken und Menschen mit ausländischem Pass die Möglichkeit politischer Partizipation vor Ort zu bieten und sie in das kulturelle sowie gesellschaftliche Leben einzubinden, wurden in den 1970er Jahren die ersten Ausländerbeiräte gegründet, so auch in Kempten. Demokratische Wahlen – wie bei jeder Art von Interessenvertretung – waren damals selbstverständlich. Viele Kommunalpolitiker*innen erkannten, dass die Beiräte im Integrationsprozess eine Schlüsselrolle übernehmen können, sie wurden dementsprechend vielerorts mit finanziellen Mitteln, hauptamtlichem Personal, Antrags- und Vertretungsrecht in städtischen Gremien ausgestattet.
In den 1990er Jahren gründete man zunächst auf der Landes-, dann auf der Bundesebene Dachorganisationen (AGABY, BZI). Die politischen Gremien und die Verwaltungen erkannten die Expertise der kommunalen Beiräte und ihrer Zusammenschlüsse, sie begannen sie zunehmend als beratende Partner wahrzunehmen. Nachdem Anfang der 2000er Jahre die Bundespolitik eingestand, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und dementsprechend mit dem Aufbau einer staatlichen Integrationspolitik begann - wenn auch bis heute nicht den Mut aufbrachte, ein kommunales Wahlrecht für alle, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, einzuführen - geriet diese Expertenfunktion, ähnlich zu den klassischen kommunalen Beiräten (z.B. für Senioren) immer mehr in den Vordergrund. Aus den Ausländerbeiräten wurden vielerorts Integrationsbeiräte, weil man – mit Recht- auf die Expertise von Eingebürgerten oder Spätaussiedlern nicht verzichten wollte. Auf einmal saßen aber auch in vielen Gremien Vertreter*innen von Organisationen, die hauptamtlich Integrationsarbeit machen und Stadträt*innen. Gleichzeitig gerieten die Wahlen in Verruf, wegen der niedrigen Wahlbeteiligung und weil das Wahlrecht der immer größer werdenden Vielfalt innerhalb der Migrant*innengesellschaft nicht angepasst wurde. Kommunen, die in dieser Situation den sogenannten Minderheitenschutz einführten, das heißt – den demografischen Daten entsprechend – für die Vertreter*innen von Menschen aus den unterschiedlichen Communitys eine bestimmte Anzahl an Plätzen im Beirat festlegten, verfügen zurzeit meist über gut funktionierende Beiräte: Sie spiegeln die gesellschaftliche Vielfalt wider und verfügen über eine demokratische Legitimität.
Kempten hat in diesem Fall sozusagen das Kind mit dem Bade ausgeschüttet: Hier wurde zwar die Struktur der gesellschaftlichen Realität angepasst, gleichzeitig aber durch Abschaffung der Wahlen dem Gremium die demokratische Legitimation entzogen. Aus einer demokratisch gewählten Interessenvertretung wurde ein klassischer Beirat, dessen Mitglieder vom Stadtrat bestimmt werden. Das Ergebnis ist: Die – immer spärlicher besuchten - Sitzungen sind mit Experteninformationen überlastet, es fehlt die Eigeninitiative, die Gesprächsführung ist fest in der Hand von Stadträt*innen und hauptamtlichen Mitarbeiter*innen. Es wäre total falsch, die Schuld am fehlenden Engagement allein den Mitgliedern in die Schuhe zu schieben; viele fingen mit großer Begeisterung an, die Resignation kam erst später. Stellen Sie sich Gewerkschaftsvertreter*innen vor, die nicht von der Belegschaft gewählt, sondern vom Betriebsleiter und von führenden Angestellten ausgewählt werden, deren Agenda die gleichen festlegen…
Symptomatisch für die aktuelle Situation ist für mich die letzte Abstimmung über die Beibehaltung des Systems der Benennungen contra Rückkehr zu Wahlen. Wie der Kreisbote berichtete, gab es außer meiner keine einzige Stimme für demokratische Wahlen, weil … Wäre das möglich, wenn die Mitglieder ihren Wähler*innen und ihren Communitys gegenüber Rechenschaft ablegen müssten? Ich kann es nicht verantworten, dass in einer Zeit, in der alle etablierten demokratischen Parteien über die Chancen einer Einwanderungsgesellschaft sprechen, in unserer Stadt mehr als 6.000 Menschen überhaupt keine Möglichkeit zum Wählen bekommen und sich nicht ohne Unrecht als Bürger*innen dritter Klasse fühlen und weitere mehr als 20.000 kaum Einfluss auf die Auswahl der Personen haben, die Fürsprecher*innen ihrer speziellen Anliegen sein sollten. Der gesellschaftliche Zusammenhalt in unserer Stadt ist wichtiger denn je. Damit er funktionieren kann, brauchen wir einen starken Integrationsbeirat, demokratisch gewählt, mit einer passenden personellen und finanziellen Infrastruktur sowie mit Rechten und Pflichten ausgestattet, außerdem mit der Möglichkeit, eigenständig zu handeln und (im Gegensatz zur jetzigen Situation) eigenständig Öffentlichkeitsarbeit zu leisten. Bis dahin werde ich nicht aufhören, „Spielverderber“ zu sein und mich für die Gleichberechtigung aller Bürgerinnen und Bürger in unserer Stadt einzusetzen.