Ivan Krastev / Stephen Holmes: Das Licht, das erlosch. Eine Abrechnung (Ullstein 2019)
"Wir sind alle als Originale geboren - wie kommt es, dass so viele von uns als Kopien sterben?" - Mit diesem Zitat von Edward Young bringen der aus Bulgarien stammende Star-Politologe Ivan Krastev und der amerikanische Rechtswissenschaftler Stephen Holmes ihre These auf den Punkt: Sie beschrieben die drei Jahrzehnte nach 1989 als "Zeitalter der Nachahmung". Da nach dem Zerfall des kommunistischen Weltsystems die liberale Demokratie ohne Alternative geblieben ist, entstand ein "Nachahmungsimperativ", dessen Auswirkungen "den liberalen Traum in einen liberalen Albtraum verwandelten". Sie analysieren zuerst die Situation im ostmitteleuropäischen Raum, dann in Russland und schließlich in Trumps Amerika, um am Ende kurz nach China zu blicken.
Katastrophal beurteilen sie die Auswirkungen des "Massenexodus" von jungen, gebildeten Talenten, die nach der Öffnung der Grenzen einsetzte. "Warum sollte ein junger Pole oder Ungar darauf warten, dass sein Land irgendwann wie Deutschland wird, wenn er schon morgen in Deutschland arbeiten und eine Familie gründen kann?", stellen die Autoren die Frage. Lettland verlor beispielsweise zwischen 1989 und 2017 27 Prozent seiner Bevölkerung, Bulgarien 21 Prozent. Zwei Millionen Ostdeutsche (ca. 14 Prozent der DDR-Bevölkerung) zogen in den Westen, seit 2007 verließen 3,4 Millionen, überwiegend junge Rumänen ihr Land. Das habe die Chancen liberaler Parteien entscheidend vermindert, bei Wahlen gut abzuschneiden. Man bekomme in diesen Ländern "allein dadurch, dass man geblieben ist, das Gefühl, zu den Verlierern zu gehören". Die Abwanderung werde erst aufhören, wenn der Westen seinen Reiz verliert. Auch deshalb stilisieren sich seit 2015 Orbán, Kaczynski und Co. gerne als die wahren Retter Europas, die vom Westen nachgeahmt werden sollten. Die Autoren beschrieben die Wandlung vom "mutigen, jungen und liberalen" Orbán süffisant: "Während die Budapester Liberalen Recht bekommen wollten, wollte er Wahlen gewinnen." Seine liberalen Feindbilder brauche er vor allem, "um damit die ideologische Leere und Banalität seines Illiberalismus zu kompensieren".
Der Schlüsselsatz bei der Analyse von Putins Russland ist auf Seite 184 zu lesen: "Auch heute ist der Kreml davon überzeugt, dass das Überleben des Regimes von der Aushöhlung der globalen Hegemonie des liberalen Westens abhängt." Während Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Demokratie imitierte, um den Druck westlicher Regierungen zu reduzieren, schockte Putin im Februar 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz mit ganz neuen Tönen. Er hebt bei seinen aggressiven außenpolitischen Aktionen immer wieder hervor, dass er nur die Amerikaner nachahmen würde. "Russland und Amerika fangen tatsächlich an, einander zu ähneln," resümieren die beiden Autoren.
"Man braucht kein Poirot zu sein, um zu erkennen, dass der gegenwärtige Präsident der Vereinigten Staaten ihr (Putin, Orbán und Co.) williger Komplize ist", behaupten sie am Anfang des Kapitels über die USA. "Wenn Napoleon der heroische Weltgeist zu Pferde war, könnte man Trump vielleicht als den ersten antiliberalen Zeitgeist auf Twitter bezeichnen." "Wenn seine innenpolitische Agenda der ungarischen entspricht, so folgt seine internationale Agenda der russischen." Trump wolle der erste amerikanische Präsident sein, der nicht will, dass sein Land als Vorbild für die Welt dient. Er will keine moralische Überlegenheit: "Warum bitte sollte man der einzige ehrliche Spieler in der Pokerrunde sein?" Trump "lügt unverhohlen und ungeniert, um Macht über die Wahrheit auszuüben." Er habe die "Republic of the Citizens" in eine "Republic of Fans" verwandelt.
Die Chinesen wollen mit Nachahmung wenig zu tun haben: "Sie entleihen maßlos, weigern sich aber, sich zu bekehren." Sie missionieren nicht, sie wollen chinesische Waren exportieren, aber keine chinesische Ideologie.
Die Prognose der beiden Autoren für die Zukunft der liberalen Ideologie fällt eher negativ aus. Durch die Brille der Nachahmungstheorie lässt sich einiges erklären. Trotzdem würde ich es gut finden, ab und zu die Brille zu wechseln: Die Darstellung ist in meinen Augen zu monokausal.