Literatur

Literatur

Lesen in den Zeiten von Corona:

"Bücher sind nur dickere Briefe an Freunde," schrieb 1797 Jean Paul. In den Zeiten der Corona-Krise sind diese "dicken Briefe" noch wichtiger als sonst. Sie können zwar ansteckend sein, aber ohne Gefahr für die Gesundheit. Sie halten sogar fit, im Kopf und im Herzen. 
Hier stelle ich ein paar Bücher vor, die im Moment Abwechslung und neue Impulse in mein Leben bringen:
Volker Weidermann: Das Duell. Die Geschichte von Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki 
(Kiepenheuer & Witsch 2019)

Volker Weidermann beschreibt die "zweifelhafte Freundschaft" zwischen zwei Männern, die vieles trennt und noch mehr verbindet. Die jungen Jahre könnten nicht unterschiedlicher sein: ein deutscher Junge aus Danzig, der kaum erwarten kann, in den Krieg zu ziehen und lange nicht bereit ist, seine SS-Mitgliedschaft einzugestehen; und der polnische Jude, der die Shoa mit viel Glück und dank der Solidarität einer polnischen Familie überlebt und sich trotzdem für Deutschland und die deutsche Literatur entscheidet. Er hat sich als junger Mann in Berlin in die deutsche Literatur verliebt, die Rückkehr nach Polen empfand er als "Exil in seinem eigenen Geburtsland".

Die Schilderung ihr ersten Treffens 1958 im Hotel Bristol in Warschau gehört zu den zahlreichen amüsanten Stellen dieses kurzweiligen Buches. Noch im gleichen Jahr sehen sie sich wieder, im Hotel Adler in Großholzleute im Allgäu; Grass stellt hier "Die Blechtrommel" erstmalig vor, im Rahmen des Treffens der Gruppe 47, Marcel Reich ist das erste Mal dabei. Hier stellt Grass dem Literaturkritiker die Frage: "Was sind Sie denn nun eigentlich - ein Pole, ein Deutscher oder wie?" Der Kritiker antwortet schlagfertig: "Ich bin ein halber Pole, ein halber Deutscher und ein ganzer Jude." Wie viele Menschen mit Migrationsgeschichte kennen diese Situation auch im heutigen Deutschland? Eine ernsthaftere Antwort gab Reich-Ranicki in einem Interview 1999: "Ich war nie Deutscher, ich werde es auch nie sein. Ich lasse das Wort deutsch in Bezug auf meine Person zwar gelten, aber immer nur als Adjektiv. Nie als Hauptwort. Ich bin ein deutscher Kritiker, ein deutscher Literat. Aber ich bin kein Deutscher." Weidermann zeigt an vielen Beispielen auf, warum sich der "deutsche Literaturpapst" nie ganz zugehörig fühlen konnte und warum er im gleichen Interview sagte: "Es ist kein Vergnügen, einer Minderheit anzugehören."

Günter Grass erklärt im "Beim Häuten der Zwiebel" in Bezug auf seine Jugend: "Ich verpasste die Gelegenheit, in erster Lektion das Zweifeln zu lernen." Laut Weidermann ist das der Grund dafür, dass er den Zweifel "in seinem späteren Leben fast zu einer Art Religion für ihn" entwickelte. Mir gefällt in diesem Zusammenhang folgendes Grass-Zitat: "Politik will aufklären, indem sie überzeugen versucht, während Literatur aufklärt, indem sie den Zweifel betreibt."
Sz. Bíró Zoltán: Putyin Oroszországa (Noran Libro 2019)

Zoltán Sz. Bíró analysiert die Spielräume und Strategien der russischen Politik seit der geordneten Machtübergabe von Jelzin an Putin. Im Mittelpunkt steht die innenpolitische Krise der Jahre 2011-12, die als Ursache für die Wende zu einer aggressiven Außen- und Innenpolitik und zum Populismus dargestellt wird. Sz. Bíró zeigt auf, dass viele der nur scheinbar verleugneten russischen Provokationen hauptsächlich dem Ziel dienen,  die eigene Macht zu demonstrieren. Putin versucht, mit möglichst wenigen Mitteln große Aufmerksamkeit zu erlangen, damit er wieder "am Tisch der Großen" sitzen kann. Russland hat dank seiner Rohstoffreserven bestimmte wirtschaftliche Vorteile und dank seiner Atomwaffen (über 40 Prozent weltweit) und seiner mit Vetorecht verbundenen Mitgliedschaft im Sicherheitsrat einen Sonderstatus. Gleichzeitig schrumpft seine wirtschaftliche Leistung (etwa 1/7 der EU), seine Bevölkerung (weniger als in Bangladesch), sein kultureller Einfluss (mehr Menschen lernen zurzeit Japanisch als Russisch) und die gesellschaftliche Unterstützung des Regimes im Land. Bei den Duma-Wahlen 2016 reichte für mehr als 3/4 der Mandate nach offiziellen Angaben die Zustimmung von 15 Prozent der Wahlberechtigten. Die stärkste Basis hat Putin in der Provinz, wo seine Propaganda fast konkurrenzlos ist und wo die meisten Menschen ihre Einkünfte vom Staat bekommen. Aber auch diese Unterstützung bröckelt, vor allem seit seiner Rentenreform. Der Autor weist in Zusammenhang mit den Kriegen in der Ukraine und Syrien darauf hin, dass ein politisches System, das für seine Taten kaum mit Konsequenzen rechnen muss, schnell alle Hemmungen verlieren kann. Umso mehr, weil Machterhalt das wichtigste Ziel der russischen Politik ist und sie auf keinem ideologischen oder Wertesystem basiert.

Ein eigenes Kapitel beschäftigt sich mit den russisch-ungarischen Beziehungen. Viktor Orbán vertrat bis November 2009 eine sehr kritische Haltung gegenüber Russland. Nach seinem Besuch in St. Petersburg, wo er Putin das erste Mal traf, änderte sich diese Einstellung schlagartig. 2014 wurde der Vertrag über die Erweiterung des Atomkraftwerkes in Paks mit russischer Technik und massiver russischen Hilfe unterschrieben. Seit 2013 gibt es jedes Jahr, in letzter Zeit sogar zweimal, ein Gipfeltreffen zwischen Putin und Orbán. Zoltán Sz. Bíró hält diese ungarische Politik für verantwortungslos, vor allem weil sie das Bestreben Putins, Europa zu destabilisieren, unterstützt.
Ivan Krastev / Stephen Holmes: Das Licht, das erlosch. Eine Abrechnung (Ullstein 2019)

"Wir sind alle als Originale geboren - wie kommt es, dass so viele von uns als Kopien sterben?" - Mit diesem Zitat von Edward Young bringen der aus Bulgarien stammende Star-Politologe Ivan Krastev und der amerikanische Rechtswissenschaftler Stephen Holmes ihre These auf den Punkt: Sie beschrieben die drei Jahrzehnte nach 1989 als "Zeitalter der Nachahmung". Da nach dem Zerfall des kommunistischen Weltsystems die liberale Demokratie ohne Alternative geblieben ist, entstand ein "Nachahmungsimperativ",  dessen Auswirkungen "den liberalen Traum in einen liberalen Albtraum verwandelten". Sie analysieren zuerst die Situation im ostmitteleuropäischen Raum, dann in Russland und schließlich in Trumps Amerika, um am Ende kurz nach China zu blicken.

Katastrophal beurteilen sie die Auswirkungen des "Massenexodus" von jungen, gebildeten Talenten, die nach der Öffnung der Grenzen einsetzte. "Warum sollte ein junger Pole oder Ungar darauf warten, dass sein Land irgendwann wie Deutschland wird, wenn er schon morgen in Deutschland arbeiten und eine Familie gründen kann?", stellen die Autoren die Frage. Lettland verlor beispielsweise zwischen 1989 und 2017 27 Prozent seiner Bevölkerung, Bulgarien 21 Prozent. Zwei Millionen Ostdeutsche (ca. 14 Prozent der DDR-Bevölkerung) zogen in den Westen, seit 2007 verließen 3,4 Millionen, überwiegend junge Rumänen ihr Land. Das habe die Chancen liberaler Parteien entscheidend vermindert, bei Wahlen gut abzuschneiden. Man bekomme in diesen Ländern "allein dadurch, dass man geblieben ist, das Gefühl, zu den Verlierern zu gehören". Die Abwanderung werde erst aufhören, wenn der Westen seinen Reiz verliert. Auch deshalb stilisieren sich seit 2015 Orbán, Kaczynski und Co. gerne als die wahren Retter Europas, die vom Westen nachgeahmt werden sollten. Die Autoren beschrieben die Wandlung vom "mutigen, jungen und liberalen" Orbán süffisant: "Während die Budapester Liberalen Recht bekommen wollten, wollte er Wahlen gewinnen." Seine liberalen Feindbilder brauche er vor allem, "um damit die ideologische Leere und Banalität seines Illiberalismus zu kompensieren".

Der Schlüsselsatz bei der Analyse von Putins Russland ist auf Seite 184 zu lesen: "Auch heute ist der Kreml davon überzeugt, dass das Überleben des Regimes von der Aushöhlung der globalen Hegemonie des liberalen Westens abhängt." Während Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Demokratie imitierte, um den Druck westlicher Regierungen zu reduzieren, schockte Putin im Februar 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz mit ganz neuen Tönen. Er hebt bei seinen aggressiven außenpolitischen Aktionen immer wieder hervor, dass er nur die Amerikaner nachahmen würde. "Russland und Amerika fangen tatsächlich an, einander zu ähneln," resümieren die beiden Autoren.

"Man braucht kein Poirot zu sein, um zu erkennen, dass der gegenwärtige Präsident der Vereinigten Staaten ihr (Putin, Orbán und Co.) williger Komplize ist", behaupten sie am Anfang des Kapitels über die USA. "Wenn Napoleon der heroische Weltgeist zu Pferde war, könnte man Trump vielleicht als den ersten antiliberalen Zeitgeist auf Twitter bezeichnen." "Wenn seine innenpolitische Agenda der ungarischen entspricht, so folgt seine internationale Agenda der russischen." Trump wolle der erste amerikanische Präsident sein, der nicht will, dass sein Land als Vorbild für die Welt dient. Er will keine moralische Überlegenheit: "Warum bitte sollte man der einzige ehrliche Spieler in der Pokerrunde sein?" Trump "lügt unverhohlen und ungeniert, um Macht über die Wahrheit auszuüben."  Er habe die "Republic of the Citizens" in eine "Republic of Fans" verwandelt. 

Die Chinesen wollen mit Nachahmung wenig zu tun haben: "Sie entleihen maßlos, weigern sich aber, sich zu bekehren." Sie missionieren nicht, sie wollen chinesische Waren exportieren, aber keine chinesische Ideologie.

Die Prognose der beiden Autoren für die Zukunft der liberalen Ideologie fällt eher negativ aus. Durch die Brille der Nachahmungstheorie lässt sich einiges erklären. Trotzdem würde ich es gut finden, ab und zu die Brille zu wechseln: Die Darstellung ist in meinen Augen zu monokausal.
Oplatka András: Zenekar az egész világ. A karmester Fischer Ádám (Libri 2019)
András Oplatka: Die ganze Welt ist ein Orchester. Der Dirigent Adam Fischer (Zsolnay 2019)

Es ist ungewöhnlich, dass die Biografie eines der renommiertesten Dirigenten der Welt mit einer Szene des politischen Protests beginnt: Das Orbán-Regime hat auf dem Budapester Freiheitsplatz ein Denkmal aufstellen lassen, das die Verantwortung für den Tod von mehr als einer halben Million ungarischer Jüdinnen und Juden ausschließlich den Deutschen in die Schuhe schiebt. Fischer stellte sich auf die Seite der Demonstranten. Er unterstützt auch das ungarische Helsinki-Komitee und stellte sich demonstrativ auf die Seite von György Soros, gegen den Orbáns Fidesz eine stark antisemitisch gefärbte Kampagne führt. Er setzt sich für Geflüchtete ein und verurteilt den Nationalismus, der sich auf die Kosten von anderen profiliert. Er betont, dass er nicht für Gleichheit, aber für gleiche Chancen steht. "Siegen darf nicht besiegen" bedeuten, weder in der Politik noch in einem Orchester. 

Sein Vater, Sándor Fischer wollte, dass seine drei Kinder eine internationale musikalische Karriere schaffen. Bei Ádám und seinem jüngeren Bruder Iván ist es gelungen, seine Tochter Eszter entschied sich für die Psychologie. Beide Söhne haben es geschafft, in den Zeiten des Eisernen Vorhangs, in Wien zu studieren. Oplatka beschreibt die ersten Stationen von Ádám Fischer in St.Pölten und Graz und den Durchbruch bei einem Wettbewerb der Mailänder Scala. Dann landet er für drei Jahre in Helsinki, wo er seine deutsche Frau Doris kennenlernt, mit der er weder Finnisch noch Englisch oder Deutsch konkurrieren kann. Dann stellt sich aber heraus, dass sie in Göttingen Finnougristik studierte und sie sich auch Ungarisch unterhalten können. Sie entscheiden sich für Hamburg als Familiensitz, wo der junge Maestro jedoch wenig Zeit verbringt, aber die Familie bis heute lebt. Er arbeitet an der Staatsoper in München und dann in Karlsruhe. Hier erlebt er den "deutschen Herbst" und macht das erste Mal Gedanken über das Dilemma zwischen Freiheit und Sicherheit. Die nächsten Stationen sind die Staatsoper in Wien, dann Freiburg, Düsseldorf, Kassel, Mannheim und Kopenhagen. Zwischendurch zahlreiche Aufträge in Europa und in den USA. 2001 fängt er auf dem "grünen Hügel" in Bayreuth an. Wolfgang Wagner lobt nicht nur sein musikalisches Talent, sondern auch seine Gulaschsuppe, die er nach dem letzten Teil des "Rings" jedes Mal für den ganzen Orchester zelebrierte. Zwischendurch versucht er in Budapest Fuß zu fassen, von der Staatsoper verabschiedet er sich aber in Streit. Budapest verdankt ihm aber u.a. die jährlich veranstalteten "Wagner-Tage" im Palast der Künste.

Ádám Fischer hat einen eigenen Stil, der bei den Musiker*innen nicht immer gut ankommt: Er will nicht immer alles selber bestimmen, sondern nimmt gerne Vorschläge oder Meinungen aus dem Orchester an. "Der Dirigent ist nicht (nur) dann gut, wenn ihn die Musiker für gut halten, sondern dann, wenn sie während des Spiels sie auch entdecken, dass sie selber gut sind."

András Oplatka hat die Geschichte des Paneuropäischen Picknicks und der Grenzöffnung bei Sopron historisch verarbeitet ("Der erste Riss in der Mauer"). Die Region spielt auch in diesem Buch eine Rolle. Fischer initiierte 1985, mit der Unterstützung des 1914 in Sopron geborenen Violinisten Wilhelm Hübner (Vorsitzender der Wiener Philharmoniker), die Gründung einer Haydn-Philharmonie, die die gleichen Konzerte in den Esterházy-Schlössern in Eisenstadt und in Fertöd spielte. Ádám Fischer meint, er gehöre zu den Spechten, die durch das Klopfen an den Mauern zu deren Fall beigetragen haben.   
Jill Lepore: Dieses Amerika. Manifest für eine bessere Nation (C.H. Beck 2020)

Nach ihrem Bestseller "Diese Wahrheiten" 
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