Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Kiechle,
Ich beantrage, dass die Stadt Kempten die „Charta der Vielfalt. Für Diversity in der Arbeitswelt“ unterzeichnet und mithilfe des Charta-Netzwerkes den Wandel der kommunalen Verwaltungskultur zu mehr Vielfalt konsequent umsetzt.
Die Charta der Vielfalt setzt sich für die Verankerung von Vielfalt in Wirtschaft und Gesellschaft ein. Die Schirmherrin ist seit 2006 Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel. Die Initiative wird von der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Staatsministerin Annette Widmann-Mauz tatkräftig unterstützt. Bis heute haben rund 3.700 Organisationen mit insgesamt knapp 14 Millionen Beschäftigten die Charta der Vielfalt unterzeichnet, unter ihnen auch die Hochschule in Kempten. 15 Prozent der Unterzeichner*innen stammen aus dem öffentlichen Sektor, unter ihnen auch einige bayerische Kommunen, auch unsere „Bezirkshauptstadt“ Augsburg.
Die Charta der Vielfalt steht für einen ganzheitlichen Ansatz und Umgang mit Vielfalt und konzentriert sich auf 6 Dimensionen der Vielfalt: 1. Ethnische Herkunft und Nationalität, 2. Geschlecht und geschlechtliche Identität, 3. Alter, 4. Behinderung, 5. Sexuelle Orientierung und Identität, 6. Religion und Weltanschauung.
Die Charta der Vielfalt ist eine Selbstverpflichtungserklärung mit folgendem Wortlaut:
Die Vielfalt der modernen Gesellschaft, beeinflusst durch die Globalisierung und den demografischen Wandel, prägt das Wirtschaftsleben in Deutschland. Wir können wirtschaftlich nur erfolgreich sein, wenn wir die vorhandene Vielfalt erkennen und nutzen. Das betrifft die Vielfalt in unserer Belegschaft und die vielfältigen Bedürfnisse unserer Kund*innen sowie unserer Geschäftskontakte.
Die Vielfalt der Mitarbeitenden mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten und Talenten eröffnet Chancen für innovative und kreative Lösungen.
Die Umsetzung der „Charta der Vielfalt“ in unserer Organisation hat zum Ziel, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das frei von Vorurteilen ist. Alle Mitarbeitenden sollen Wertschätzung erfahren – unabhängig von Geschlecht und geschlechtlicher Identität, Nationalität, ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexueller Orientierung und Identität. Die Anerkennung und Förderung dieser vielfältigen Potenziale schafft wirtschaftliche Vorteile für unsere Organisation.
Wir schaffen ein Klima der Akzeptanz und des gegenseitigen Vertrauens. Dieses hat positive Auswirkungen auf unser Ansehen in Geschäftsbeziehungen und bei Kund*innen sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern der Welt.
Im Rahmen dieser Charta werden wir
1. eine Organisationskultur pflegen, die von gegenseitigem Respekt und Wertschätzung jeder einzelnen Person geprägt ist. Wir schaffen die Voraussetzungen dafür, dass Vorgesetzte wie Mitarbeitende diese Werte erkennen, teilen und leben. Dabei kommt den Führungskräften bzw. Vorgesetzten eine besondere Verpflichtung zu.
2. unsere Personalprozesse überprüfen und sicherstellen, dass diese den vielfältigen Fähigkeiten und Talenten aller Mitarbeitenden sowie unserem Leistungsanspruch gerecht werden.
3. die Vielfalt der Gesellschaft innerhalb und außerhalb der Organisation anerkennen, die darin liegenden Potenziale wertschätzen und für das Unternehmen oder die Institution gewinnbringend einsetzen.
4. die Umsetzung der Charta zum Thema des internen und externen Dialogs machen.
5. über unsere Aktivitäten und den Fortschritt bei der Förderung der Vielfalt und Wertschätzung jährlich öffentlich Auskunft geben.
6. unsere Belegschaft über Diversity informieren und sie bei der Umsetzung der Charta einbeziehen.
Wir sind überzeugt: Gelebte Vielfalt und Wertschätzung dieser Vielfalt hat eine positive Auswirkung auf die Gesellschaft in Deutschland.
Bei welchen Fragestellungen und Veränderungsprozessen kann uns das Charta-Netzwerk unterstützen?
1. Unsere Gesellschaft, auch die Stadtgesellschaft in Kempten, verändert sich. Denken wir nur an den demografischen Wandel, an den damit verbundenen Fachkräftemangel, an die grundlegenden Änderungen durch Digitalisierung, an die Folgen der Globalisierung oder an die Etablierung einer Einwanderungsgesellschaft. Eine moderne Stadtverwaltung kann nur bestehen, wenn sie Teil dieser Entwicklung bleibt.
2. Die öffentlichen Verwaltungen sind durch das Grundgesetz (Art. 3 Absatz 3), das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) und viele andere gleichstellungsorientierte Gesetzgebungen aufgefordert, Diskriminierungen entgegenzutreten und die Teilhabe von strukturell benachteiligten Gruppen in verschiedenen Lebensbereichen zu fördern. Diversity Management und Antidiskriminierung sind zwei Seiten einer Medaille. Es wäre daher sinnvoll, die beiden Aufgaben miteinander zu verbinden.
3. Die Angebote der Verwaltung sollten so gestaltet werden, dass sie den Bedarfen vielfältiger Bürger*innen mit unterschiedlichen Lebenskonzepten sowie Arbeits- und Lebenslagen entsprechen und diese die Dienstleistungen der Verwaltung adäquat in Anspruch nehmen können. Wir müssen die interne Heterogenität der „Zielgruppen“ etwa in Bezug auf soziale Lebenslagen, Bildungsgrad, Alter, Geschlecht, familiäre Situationen oder weitere Faktoren ausreichend berücksichtigen. Zum anderen müssen im Hinblick auf Mehrfachzugehörigkeiten (z.B. von älteren Migrantinnen) bestehende Schnittmengen in entsprechenden zielgruppenübergreifenden Projekten, Initiativen und Maßnahmen gemeinsam gestaltet werden.
4. Ein eher loses und fragmentiertes Nebeneinander verschiedener Gleichbehandlungsstrategien und Vielfalt fördernder Maßnahmen wie etwa Gender Mainstreaming, interkulturelle Öffnung, Teilhabe behinderter Menschen oder Maßnahmen für ältere Menschen sind nicht mehr zeitgemäß. Das Ressortprinzip und die Säulenstruktur der Verwaltung, bei gleichzeitig oft räumlicher Dezentralisierung, und unterschiedliche Dynamiken durch die bereits etablierten Verantwortlichkeiten für einzelne Diversity-Dimensionen müssen durch einen ganzheitlichen Ansatz abgelöst werden.
Die öffentlichen Verwaltungen und Einrichtungen sind durch das Grundgesetz (Art. 3 Absatz 3), das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) und viele andere gleichstellungsorientierte Gesetzgebungen aufgefordert, Diskriminierungen entgegenzutreten und die Teilhabe von strukturell benachteiligten Gruppen in verschiedenen Lebensbereichen zu fördern.
Herkömmliche Gleichbehandlungsstrategien werden häufig von einem defizit- und problemorientierten Ansatz geprägt, der als gesellschaftlich benachteiligt betrachtete Gruppen („Menschen mit Migrationshintergrund“, „Menschen mit Behinderung“) insbesondere als Zielgruppen sozial- oder personalpolitischer Fördermaßnahmen sieht, die Hilfe und Unterstützung benötigen. Bestimmte Zielgruppen werden dabei oft als „fremd“, „anders“ oder „besonders“ betrachtet. Diese Strategien gehen häufig von einem Verständnis von „Minderheiten“ (z.B. Migrantinnen und Migranten, Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierungen etc.) aus, die sich einer „Mehrheit“ anpassen sollten und für die daher entsprechende Fördermaßnahmen umgesetzt werden müssten. Das Verständnis von „Mehrheit“ ist dabei oft (meist unbewusst) an der Norm des männlich, deutschstämmigen, weißen, mittelalten, heterosexuellen, christlich geprägten Vollzeitarbeitnehmers ohne Behinderung orientiert. Ausgehend von veralteten Vorstellungen gehen herkömmliche Gleichbehandlungsstrategien oft mit der Erwartung einher, dass der/die einzelne Mitarbeitende oder Bürger*in sich in bestehende Strukturen bzw. die Gesellschaft „integrieren“ müsse.
Moderne Gleichbehandlungsstrategien gehen dagegen davon aus, dass angesichts der enormen Vielfalt an Lebens- und Arbeitsformen in unserer sehr pluralen Gesellschaft Vielfalt eher die Alltagsnormalität als eine Besonderheit darstellt. Ein gelassenerer Blick und eine unaufgeregte Alltagspraxis werden eingefordert. Es wird ein ressourcen- und kompetenzorientierter Ansatz verfolgt, der in der Vielfalt der Fähigkeiten, Sichtweisen, Erfahrungen und Talente vielfältiger Menschen eine wichtige gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Chance sieht. In einer hoch-individualisierten, globalisierten und äußerst pluralen Gesellschaft, in der Vorstellungen von „Mehrheit“ und „Minderheit“ schon lange nicht mehr stimmen, sind wir alle vielfältige Menschen. Moderne Strategien richten sich daher mit dem breiteren Verständnis von „Vielfalt sind wir alle“ von Anfang an an alle Mitarbeiter*innen und Bürger*innen. Sie machen eine gelungene Mitarbeit und gesellschaftliche Teilhabe weniger von der individuellen „Integrationsleistung“ oder Anpassung an eine Norm abhängig, sondern sie versuchen in einem umfassenderen Verständnis von Inklusion Rahmenbedingungen so zu gestalten und bestehende Strukturen entsprechend zu verändern, dass jede/r Einzelne in ihrer/seiner individuellen Vielfalt von Anfang an als zugehörig betrachtet werden kann.
5. Wir wollen die Qualität unserer Verwaltung (z.B. Motivation der Mitarbeitenden, Effizienz und Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes) sichern. Um eine zukunftsfähige und moderne öffentliche Verwaltung zu erhalten und gestalten, gilt es insbesondere, die Potenziale derjenigen gesellschaftlichen Gruppen stärker zu erschließen und zu nutzen, die bisher eher am Rande des Arbeitsmarkts stehen, unterrepräsentiert oder benachteiligt sind. Wir streben an, dass die Stadtverwaltung die vielfältige Gesellschaft in ihrer Struktur widerspiegelt.
In Bezug auf verschiedene gesellschaftliche Gruppen bestehen, nicht nur in Kempten, zum Teil massive Unterrepräsentationen und Missverhältnisse: Frauen sind bei den Führungskräften zu wenig vertreten. Der Frauenanteil in der Teilzeit ist immer noch sehr hoch. Besonders eklatant ist die Unterrepräsentation von Bürger*innen mit Migrationshintergrund. Obwohl ihr Anteil schon bei rund 40 % liegt, ist ihr Anteil im öffentlichen Dienst sehr niedrig. Viele Beschäftigte mit Migrationshintergrund sind zudem eher in „Arbeiterbereichen“ wie Gartenbau, Küchendienst und Straßenreinigung und auf unteren Ebenen zu finden, weniger etwa im Personalamt oder bei den Führungskräften.
Mit dem Diversity-Ansatz kann eine Verbesserung des gesamten Personalmanagements erreicht und damit eine größere Attraktivität der Verwaltung als Arbeitgeberin hergestellt werden. Es können mehr Menschen angesprochen werden, wodurch sich ein größerer Pool an potenziellen Beschäftigten eröffnet. Die Förderung und Nutzung der vorhandenen vielfältigen Potenziale der Beschäftigten und ein Arbeitsumfeld, das von gegenseitigem Respekt geprägt ist, tragen auch zur Steigerung der Mitarbeiter*innenmotivation bei und lassen damit mehr Leistungsfähigkeit der Verwaltung erwarten. In Bezug auf die Vergütung hat der öffentliche Dienst als potenzieller Arbeitgeber gegenüber der Privatwirtschaft meist das Nachsehen. Wie viele Untersuchungen jedoch zeigen, werden von Arbeitnehmenden so genannte „weiche Faktoren“ (Soft Skills) wie kollegiale Arbeitsatmosphäre, Flexibilität und gute Weiterbildungsmöglichkeiten zunehmend stärker nachgefragt als nur die Entlohnung. Wenn unsere Verwaltung es schafft, eine auf gesellschaftlicher Vielfalt, Ressourcen und Potenzialen basierende Personalpolitik zu gestalten und diese bewusst und effektiv in der Öffentlichkeit zu vertreten, kann sie ihr Image weiter verbessern und somit ihre Position auf dem konkurrenzreichen Arbeitsmarkt als Arbeitgeberin deutlich stärken.
Die Verwaltung und die Politik können durch an Vielfalt orientierte Maßnahmen und Initiativen einen großen Beitrag dazu leisten, gerade jüngere Fachkräfte am Standort zu halten, sie bei sich zu beschäftigen und Auszubildende, Studierende oder Fachkräfte aus anderen Regionen zu gewinnen. Auch im öffentlichen Dienst gilt: Je vielfältiger Arbeitsbereiche und Teams zusammengestellt sind, desto kreativer und flexibler sind und arbeiten sie.
In Deutschland wird weiterhin im Gegensatz zu Ländern wie etwa dem Vereinigten Königreich sehr viel Wert auf formale und zertifizierte Qualifikationen gelegt. Auch die Sprache („Amtssprache Deutsch“) wird hierzulande viel stärker als Entscheidungskriterium gesehen. Die aufgrund der demografischen Herausforderungen dringend notwendigen Veränderungen im Personalmanagement anzustoßen, erfordert vor dem Hintergrund von oft noch recht homogenen Organisationskulturen vor allem viel Mut, neue Sichtweisen zu entwickeln und umzusetzen. Ein anderer Blick auf Qualifikationen, der eher kompetenzbasiert als nur auf formale Nachweise ausgerichtet ist, eine stärkere Gewichtung von Mehrsprachigkeit und interkulturellen Kompetenzen oder das Infragestellen, ob für jede Stelle tatsächlich perfekte Deutschkenntnisse oder uneingeschränkte zeitliche Verfügbarkeit erforderlich sind, können diesen Perspektivwechsel einleiten.
6. Die Stadtverwaltung sollte mit ihrer an Vielfalt orientierten Haltung und entsprechendem Handeln für die Akteure im nicht-öffentlichen Sektor eine Vorreiterrolle einnehmen. Die Verwaltung kann hiermit einen großen Beitrag für eine inklusive Gesellschaft in Kempten leisten.